Die Jugendstilvilla in der Wilhelmstraße 105 in Tübingen

Die großbürgerliche Villa entstand 1910, zurückgesetzt von der Wilhelmstraße, in freier, gartenstadtähnlicher Lage nach Plänen des Stuttgarter Architekten Heinrich Henes. Es handelt sich um einen vergleichsweise weitläufigen, eingeschossigen Putzbau über Rustika-Sockel und mit Werksteingliederung sowie einer einprägsamen Dachlandschaft (auf der westlichen Haushälfte Satteldach mit freiliegendem Fachwerk im Giebel, über der Osthälfte Walmdach). 1919 wurde eine Schleppgaupe im Satteldach zur Dachterrasse ausgebaut. Bauherr war der Chemiker Dr. Paul Krais.

Der vor allem in den Folgejahren recht bekannt gewordene Architekt Henes ist unter anderem auch der Erbauer von Marmorsaal und Teehaus der ehemaligen Villa Weißenburg in Stuttgart (Weißenburgpark) sowie einiger öffentlicher Bauten im pfälsischen Frankenthal (Altertumsmuseum, Rathaus, Friedhof-Anlagen). Außerdem gehört noch die Bergbahn auf den Merkur bei Baden-Baden zu seinen Werken.
Das Gebäude steht unter dem stilistischen Einfluss der zeitgenössischen englischen Landhausarchitektur, die seit 1904 in Deutschland besonders durch Hermann Muthesius publik gemacht wurde. In Tübingen wird diese Konzeption sonst kaum vertreten.

Bezeichnend sind die horizontale Lagerung des Baukörpers unter dem weit vorkragenden Dach, das den wichtigsten gestalterischen Akzent setzt, sowie das rechtwinklig angeordnete Fachwerk im Giebelfeld und der hohe Rustikasockel mit ihren deutlichen Bezügen auf eine vorstädtische oder ländliche Umgebung. Dazu gehört auch der sich vorwölbende Erker, der durch Stege in schmale Fensteröffnungen unterteilt ist und als besonders charakteristisches englisches Architekturmotiv gelten kann.

Der Grundriss, die Anordnung und Größe der einzelnen Räume, ist völlig dem Wohnzweck nach den Bedürfnissen des Bauherrn angepasst und nimmt keine Rücksicht auf Symmetrieachsen. Damit entspricht er einem berühmten Schlagwort der Erbauungszeit, wonach die Form der Funktion zu folgen hat, so dass sich die Gestalt aus dem Zweck ergibt. Diese Wirkung hat besonders das von vornherein ausgebaute Dachgeschoss, dessen zwei unterschiedlich gestalteten Hälften den Eindruck einer L-förmigen Anlage hervorrufen und mit Symmetrie und Asymmetrie spielen. Das ist im Übrigen auch ein Merkmal der so genannten Stilbewegung, die in Deutschland unter dem Namen „Jugendstil“ bekannt ist.
Es kommt zum Beispiel im Eingangsbereich zum Ausdruck, wo Zwillingsgaupen über der von Pilastern gerahmten Tür smmetrische Akzente setzen, die jedoch durch eine unregelmäßige Fensteranordnung wieder aufgehoben werden. Als gut überliefertes Landhaus samt Garten und Einfriedung ist das Gebäude Wilhelmstraße 105 trotz verschiedentlicher Umnutzungen in den letzten Jahrzehnten ein bis heute durch die Qualität seiner Architektur im Äußeren und Inneren sowie durch die Gediegenheit der erhaltenen Ausstattungsdetails (z.B. an Fenstern- Türen und Treppengeländern) höchst anschauliches Zeugnis für Wohn- und Lebensverhältnisse einer wohlhabenden bürgerlichen Gesellschaftsschicht in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg. Es handelt sich daher um ein Kulturdenkmal aus künstlerischen und wissenschaftlichen (vor allem architekturgeschichtlichen) Gründen. An seiner Erhaltung besteht insbesondere wegen seines dokumentarischen und exemplarischen Wertes ein öffentliches Interesse.

Die Villa wird seit vielen Jahren als gewerbliches Gebäude genutzt. Als Mieter finden sich unterschiedliche Branchen: Neben einem Hersteller von Holz-Musikinstrumenten findet sich eine Arztpraxis sowie unterschiedliche Finanzdienstleistungs- und Beratungsunternehmen allgemeiner Art. Der gesunde Branchenmix wird sich weiter fortsetzen.


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